Hafermilch- oder Leistungsgesellschaft? – Die Bundesjugendspiele als Symbol einer Diskussion

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Ein Kommentar von Leon Ries zu den Bundesjugendspielen

Über den Sommer hinweg entfachte in einer besonderen Dynamik eine gesellschaftlich und medial sehr emotional und wenig fundiert geführte Diskussion über die Bundesjugendspiele. Jede*r, ob berufen oder nicht, ob tatsächlich informiert oder einfach nur an Falschmeldungen orientiert, musste irgendeinen Kommentar zu den Bundesjugendspielen abgeben. Ganz egal, ob aus dem Bereich der Politik, der Wissenschaft, der (ehemaligen) Spitzensportler*innen oder auch der Medien selbst: Fast alle sprachen über die „Abschaffung der Bundesjugendspiele“, die „Reform der Bundesjugendspiele“, und von der „Abschaffung des Leistungsprinzips“.

Überrascht eine solche Debatte? Nicht wirklich. Die Diskussion über eine „verweichlichte Jugend“ oder die „Hafermilchgesellschaft“ deuteten ja bereits an, dass es en vogue ist von jungen Menschen endlich Leistung zu fordern. Die Änderungen bei den Bundesjugendspielen schienen insofern genau dieses Narrativ zu bedienen, wenn man verkürzt zusammenfasste, es ginge dort in Zukunft nicht mehr um die Bewertung der sportlichen Leistung.

Aber der Reihe nach, schauen wir uns erst einmal die Fakten an: Bei Bundesjugendspielen wird selbstverständlich weiterhin bei jedem Kind eine Leistungsmessung vorgenommen, diese Leistung wird zudem mit einer entsprechender Urkunde ausgezeichnet. Gemessen wird in Zonen und nicht mehr in genauen Zeiten und Zentimetern, was die Durchführung der Bundesjugendspiele deutlich beschleunigt. Für die Schüler*innen bedeutet das, dass sie in Zukunft mehr Bewegungs- und weniger Wartezeit haben werden. Auch bringt das neue Format mehr Flexibilität mit sich, sodass Lehrkräfte die Durchführung auch in Sportstätten vornehmen können, die keine perfekte Ausstattung vorweisen. Dadurch werden mehr Schüler*innen in ihrer sportlichen Leistungsfähigkeit überprüft als zuvor. Ich könnte weitere Fakten aufzählen.

Hinter der Diskussion steckt die Forderung, im Kinder- und Jugendsport weiterhin (und sogar vermehrt) auf Leistungsmessung, Tabellen sowie Sieger*innen und Verlierer*innen zu setzen. Dies eröffnet die vielleicht viel spannendere Frage nach der Rolle und Ausgestaltung des Kinder- und Jugendsports in unserer Gesellschaft. Zugegebenermaßen haben wir uns dieser Frage im organisierten Sport bislang zu wenig gewidmet, denn Kinder- und Jugendsport funktionierte in der Vergangenheit irgendwie – so nebenbei. Und in der Tat, das tut er aktuell offenbar besonders gut. Die ansteigenden Mitgliederzahlen im Kinder- und Jugendbereich belegen, dass Sport wichtig für die junge Generation ist. Zugleich bedeutet das für uns als Vereine und Verbände eine besonders hohe Verantwortung. Wir müssen uns um diese Menschen kümmern und sie für den Sport langfristig begeistern und gewinnen. Wir müssen uns also fragen, wie sieht ein zeitgemäßer Kinder- und Jugendsport aus, braucht es mehr oder weniger Leistungsdruck?

Allgemein gilt, Kinder müssen für Sport begeistert werden. Wir wollen sicherlich keine Nation sein, in der Kinder sich kaum bewegen beziehungsweise Bewegung ein Privileg ist. Damit wir so viele Kinder wie möglich in Bewegung bringen, muss Bewegung Spaß machen und Freude ermöglichen. Dazu zählt selbstverständlich der Wettkampf, das bringt der Sport mit sich. Aber ist der erste Tabellenplatz bei Sechs- bis Neunjährigen wirklich wichtiger als die allgemeine motorische Ausbildung der Kinder und die Begeisterung für den Sport? Ich denke nicht!
Das bedeutet auch für den Schulsport, dass Noten im Sport vielleicht irgendwie sein müssen, aber sie sollten nicht dazu führen, dass wir "Sportmuffel" erzeugen oder Kinder, die sich schämen, Sport zu treiben. An dieser Stelle kommt häufig eines meiner Lieblingsargumente: "Ich war in Mathe schlecht und da hat mir auch keiner eine Note für meinen persönlichen Fortschritt gegeben und im Sport konnte ich endlich mal glänzen." Eine negative Erfahrung aus einem Fach ins andere Fach zu übertragen, nur dann eben für eine andere Personengruppe, ist irgendwie nicht der Ansatz, den ich nachvollziehen kann. Zum Glück gibt es viele tolle Sportlehrer*innen, die großartige Arbeit leisten.

Damit ich nicht falsch verstanden werde, ich bin überzeugt, dass für Jugendliche Wettkämpfe und Tabellen absolut legitim und wichtig sind, aber auch hier muss differenziert werden. Wenn wir nur noch kurzfristige Erfolge von Jugendlichen als Maßstab heranziehen, dann werden wir zu einer Nation, die in der Talentsichtung und Leistungsüberprüfung immer gut sein wird, aber in der Talententwicklung den Anschluss verliert. Ich bin froh, dass in ganz vielen Sportverbänden die Talententwicklung eine zentrale Rolle einnimmt und hoffe, dass dies durch die mediale Diskussion auch nicht negativ beeinflusst wird.

Abschließend möchte ich festhalten: Wir brauchen vor allem mehr Mut für den Kinder- und Jugendsport in Deutschland - auch bei den Bundesjugendspielen. Leistungsdruck und -überprüfung muss in den Situationen erhalten bleiben, in denen er einem leistungsfördernden oder sozialem Ziel dient, er darf aber kein Selbstzweck sein. Diese Logik des Sports für Kinder und Jugendliche aufzubrechen, bedarf Mut von Lehrer*innen, Trainer*innen, Verbänden und Vereinen. Zugleich ist es eine fast logische Haltung, denn wir wollen Sport für unsere Kinder und Jugendlichen machen und sie für den Sport gewinnen. Sie sind die Olympiasieger*innen, Amateursportler*innen und sportbegeisterte Vereinsmitglieder der Zukunft und wir brauchen sie.

Leon Ries, 02. November 2023


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