„Es ist kein Gewinnerthema. Es ist unangenehm, es ist schwierig, es ist kompliziert.“

Quelle: Judo Magazin/ Micha Neugebauer

Christina Gassner im Interview mit dem Judo-Magazin

Für den organisierten Sport kümmert sich bundesweit federführend die Deutsche Sportjugend (dsj) um den Kinder- und Jugendschutz. Die Expertinnen und Experten für „Safe Sport“ haben ihre Büros im gleichen Gebäudekomplex wie der Deutsche Judo-Bund, im „Haus des Deutschen Sports“ im Frankfurter Stadtwald. Die dsj ist die Jugendorganisation im Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), ihre Mitglieder sind die Jugendorganisationen der Sportverbände. Im Judo ist das die von der Bundesjugendleitung geführte Judojugend.

Im Jahr 2010 kam sexualisierte Gewalt im Sport erstmals größer auf die Agenda. Die DOSB-Mitgliedsorganisationen gaben sich mit der „Münchener Erklärung“ eine Selbstverpflichtung zum Schutz davor. Den Worten folgten später, 2018 und 2020, wichtige Beschlüsse. Denn hinter den von den Mitgliederversammlungen getroffenen und sachte betitelten „Stufenmodellen“ liegen klare Ansagen an die Mitgliedsorganisationen: Finanzielle Mittel werden ihnen nur weitergeleitet, wenn sie schrittweise Standards zum Schutz vor sexualisierter Gewalt im Sport umsetzen. „Wir haben damit ein starkes Schwert“, sagt Christina Gassner. Denn ansonsten sind die Durchgriffsmöglichkeiten aufgrund der Verbandsautonomie sehr begrenzt.

Gassner ist 2019 in die Zentrale des organisierten Sports gekommen. Seitdem ist die Geschäftsführerin der dsj, zugleich Vorstand Jugendsport im DOSB, die treibende Kraft für den Schutz vor Gewalt im Kinderund Jugendsport. Die 46 Jahre alte Juristin hat das Thema zur Chefinnensache gemacht und personell verstärkt. Vorher gab es mit Elena Lamby eine dsj-Referentin, inzwischen kümmern sich drei Mitarbeitende in Vollzeit und Lamby ist in die Ressortleitung aufgestiegen. „Obwohl es als Leuchtturmthema der dsj wahrgenommen wurde und wird, hatte ich das Gefühl, dass die Prävention sexualisierter Gewalt strukturell ein wenig verschwand“, erläutert Gassner, warum sie sich speziell dieser Aufgabe annahm. „Ich fand, es muss sichtbarer werden.“

Das 2018 eingeführte dsj-Stufenmodell haben alle Mitgliedsorganisationen, die Mittel über die dsj erhalten, umgesetzt, berichtet Gassner. „Das halte ich für einen sehr großen Erfolg.“ Das 2020 folgende DOSB-Stufenmodell soll bis 2024 so weit sein. Wichtig ist Gassner auch, dass sich das Thema weiterentwickelt: „Vom starken Fokus auf Prävention und sexualisierter Gewalt auf alle Bereiche des Schutzes, auch auf Intervention und Aufarbeitung. Und nicht mehr nur auf sexualisierte Gewalt beschränkt, sondern alle Formen interpersonaler Gewalt beinhaltend.“

Eingenordete Verbandsstrukturen sind das eine, die Umsetzung muss indes an der Basis, in den Vereinen, ankommen. Dort, glaubt auch Gassner, ist noch viel zu tun. „Es gibt zum Teil gute Ansätze, gerade wo Mitgliedsorganisationen die Möglichkeit haben, die Weiterleitung von Mitteln an die Umsetzung von Schutzkonzepten zu knüpfen. Etwa in Hamburg, wo die Vereine direkt beim Landessportbund angegliedert sind. Wir glauben, dass viele bereits für das Themenfeld sensibilisiert sind. Es ist heute mehr denn je in aller Munde. Aber ich glaube auch, dass es immer noch große Schutzlücken gibt. Es ist unser Ziel, sie zu schließen und alle 87.000 Vereine in Deutschland zu einem sicheren Ort für Kinder und Jugendliche zu machen.“

Sehr viele Vereine sind ehrenamtlich geführt. „Sie brauchen Unterstützung und Beratung, und da liegt es auch an uns, zu schauen, wie man diese sicherstellen kann.“ Im Bereich der Prävention sei man inzwischen ganz gut aufgestellt, findet Gassner, bei Maßnahmen der Intervention und Aufarbeitung bestünden noch Lücken.

Eine Grundfrage ist, inwieweit der Sport Teil der Lösung sein kann. „Es geht nicht ohne den Sport. Damit es am Ende wirklich zu Veränderungen kommt, dass Missstände abgestellt werden, bedarf es der Einbeziehung von betroffenen Verbänden und Vereinen“, stellt Gassner heraus. Gleichwohl unterstützt sie die Einrichtung eines unabhängigen Zentrums „Safe Sport“. Diese Stelle ist vom Verein Athleten Deutschland angeregt worden, sie wird von der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs empfohlen und hat es in den Koalitionsvertrag geschafft – ein deutliches Zeichen von Bedeutung auf bundespolitischer Ebene. „Wir begrüßen das Zentrum ausdrücklich und glauben, dass es tatsächlich die Schutzlücken schließen und vor allen Dingen auch die Aktivitäten und Maßnahmen der Sportvereine und -verbände sinnvoll ergänzen kann.“ Finanziell beteiligen will sich der organisierte Sport zunächst nicht. „Wir möchten nicht, dass Geld, das im Moment in die Bemühungen des organisierten Sports fließt, rausgezogen wird, um es an anderer Stelle einzubringen. Das wäre ein fatales Zeichen.“

Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat Ende September eine Fallstudie veröffentlicht: „Sexualisierte Gewalt und sexueller Kindesmissbrauch im Kontext des Sports“. Darin heißt es: Zu oft behinderten Vereine und Verbände eine schonungslose Aufarbeitung von Fällen sexueller Gewalt. Es ist die Rede von „systematischen Verdeckungsprozessen in den Strukturen des Sports“. Frage an Christina Gassner: Ist bei den Funktionärinnen und Funktionären in den Verbänden ausreichend angekommen, dass der organisierte Sport hier ein Mega-Problem hat, das seine positive Konnotierung als Schutzraum angreift? Die Expertin antwortet: „Es braucht einen Kulturwandel, einen Wandel zu einer Kultur des Hinsehens, aber auch des Handelns und vor allen Dingen auch des Verstehens. Einen Kulturwandel kann man aber nicht verordnen, es ist eine Haltung, die aus einem selbst kommen muss. Was ich wahrnehme: Man kommt nicht mehr drum herum, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Es wird immer ansprechbarer und hat seine Berechtigung in allen sportinternen, aber auch sportpolitischen Diskussionen. Steter Tropfen höhlt den Stein. Wir sehen heute am Feedback, an Anfragen nach Beratung, dass sich etwas verändert. Man geht viel transparenter damit um und versucht, sehr schnell zu reagieren.“

Unterstützung und Beratung

Die dsj-Vollversammlung im Oktober 2022 in Wuppertal hat einstimmig eine Resolution verabschiedet: „Schutz vor Gewalt im Sport im Zukunftsplan Safe Sport als nachhaltige Gesamtstrategie verankern!“ Hinter dem 13-Worte-Titel geht es um „konkrete Verbesserungen in der Qualität der Prävention, Intervention und Aufarbeitung zum Schutz vor Gewalt im organisierten Sport und einen Ausbau der dafür notwendigen Strukturen innerhalb und außerhalb des Sports“. Was heißt das? Christina Gassner erläutert: „Verbände und Vereine brauchen Unterstützung und Beratung. Das ist kein leichtes Thema. Und es ist kein Thema, das man leicht beantworten kann. Jeder Fall ist anders. Es gibt eine große Besorgnis, etwas falsch zu machen – den Betroffenen nicht gerecht zu werden, vielleicht aber auch rechtlichen Anforderungen nicht gerecht zu werden. Man muss mit einer medialen Berichterstattung rechnen, und es gibt eben einen hohen Anspruch, alles richtig zu machen. Dafür werden Menschen benötigt, die sich gut damit auskennen, die gut beraten und gut unterstützen. Gerade Fälle der Intervention und Aufarbeitung sind keine kleine Sache, sondern sehr ressourcenintensiv.“

Einige Tage, nachdem wir mit Christina Gassner einen Interviewtermin verabredet hatten, wurde bekannt, dass sie Anfang 2023 beruflich zum Deutschen Fußball-Bund wechseln wird. So baten wir sie bei unserem Gespräch, eine Bilanz zu ziehen: Was nimmt sie aus ihrer Arbeit für Safe Sport persönlich mit? Gassner antwortet: „Mir liegt das Themenfeld am Herzen. Das war einer der Gründe, weshalb ich mich damit befasst habe und nach außen dafür stehe. Ich finde es wichtig, den Betroffenen eine Stimme zu geben. Und da gibt es nicht nur die Fälle, die man aus den Medien kennt, sondern es gibt eine große Zahl an Betroffenen, die es gar nicht schaffen, sich mit dem, was ihnen passiert ist, auseinanderzusetzen, weil es einfach zu belastend ist. Ihnen eine Stimme zu geben und sie in den Blick zu nehmen, und zu schauen, was können wir verändern, das treibt mich an. Das Thema ist ein dickes Brett, es ist kein Gewinnerthema. Es ist unangenehm, es ist schwierig, es ist kompliziert. Aber wir wollen nicht nachlassen und immer wieder den Finger in die Wunde legen und darauf aufmerksam machen, wie wichtig es ist. Das wird mich auch weiterhin antreiben.“

Oliver Kauer-Berk


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